Auszug aus Kapitel 1

 

Kommt, kommt, wer ihr auch sein mögt:

Wanderer, Anbeter, alle, die ihr den Abschied liebt -

ganz gleich.

Kommt, auch wenn ihr eure Schwüre 

schon tausendmal gebrochen habt. 

Unsere Karawane heißt nicht Verzweiflung -

kommt, und noch einmal kommt! 

(Ǧalāl ad-Dīn Muḥammad Rūmī - Aus dem Diwan) 

 


Ein prophetisches Kernfusionskraftwerk thronte am Firmament. Seine ausufernden Glieder erstreckten sich über eine willfährige, seit geraumer Zeit auf Wanderschaft gezogene Karawane. Die Strahlen senkten sich und pulsten, nicht dass sie rigoros eingriffen… aber ein Zittern blieb, ein Beben und Spannen, das die Starrheit der wandernden Körper zu vielfältigem Dünsten überreden konnte. Ihnen erschien es mehr oder minder beliebig: das Klima, Amun-Re, die eigenleibliche Verfasstheit oder schlicht ein schlechtes, nervöses Denken. Aber Tante Klara tat wahrlich ihr Bestes. Unbeirrt prangte sie über dem weitläufigen Zug des polychromen Menschenpulks, der mit Reitern und Wägen, Pilgern und Kamelen rastlos vorwärtstrieb: ständig berührt, ständig versetzt, im unablässigen Wandel seines Mit- und In- und Aus-Ein-Anders.

Nicht bloß Elektrolyte vermochten sich unter ihrer Einwirkung zu lösen und zu binden. Empfindungen und Vorstellungen mannigfaltiger Gattungsgruppen sprossen, begünstigt durch die anmutige Vegetationskargheit, die hin und an durch vereinzelte Akazien und verdorrte Sträucher, groteske Säulenkakteen und buschige Tamarisken hervortrat, wie scheckige Radieschen aus den Einbildungskräften der Schicksalsgenossen und verstanden es der Wüste ein noch farbenprächtigeres Antlitz zu verleihen. Wobei ein Gebilde sich konstant, durch fast all die Körper zu winden schien: in stetiger Anstrengung einem ehrwürdigen Ziel ergeben zu sein.

Ein hochgewachsener, sehniger Mann, der trotz seiner vormaligen Ansiedlung im Herzen des Persischen Golfs einen äußerst dunklen Teint zur Schau trug, weswegen er einst, und nicht selten, als Emporkömmling der südwestlichen Seite des eritreischen Meeres erachtet wurde, gelegentlich gar als ein Schwindling, der sich durch die Enge Bâb al-mandabs illegitimen Zugang auf die Halbinsel erschlichen hatte, hielt mit einem Mal im Trampelpfad inne. Er drehte sich um, neigte seinen Blick zum Himmelszelt und ließ ihn über die sandigen Flächen wandern. Zugleich, etwa vierzig Fuß hinter ihm, lief mit den Zügeln seines Kamels in den Händen ein lediglich unwesentlich anders ausgerichteter Mensch, dessen Gesicht im augenfälligen Kontrast zu seinem jedoch in angestrengten Falten lag. Ihm fiel es schwer, sich der Umwelt einzustimmen und dem andauernden Enthusiasmus seiner Nächsten beizuwohnen. Er hatte anderes im Sinn: zirkuläres. Nennen wir ihn Gideon. Der Hochgewachsene bemerkte die dunstige Wolke, die um seinen Freund ihre genüsslichen Bahnen zu ziehen begann, und beäugte ihn inständig. Ein zierlicher, langhaariger Kerl, der trotz seines Aufwuchses am südöstlichen Rande der tyrrhenischen See, einen äußerst hellen Teint aufwies, weswegen er seitens seiner väterlichen Linie, bevor eine gewisse genetische Evidenz die Gemüter beruhigte, zunächst als liederlicher Seitenschritt seiner Mutter gedeutet wurde. 

Doch Gideon gewahrte ihm und seinem Ansinnen nicht. Selbst nachdem er eigens an ihm vorbeigeschritten war und erneut etliche Meter ihre Differenz markierten. Da verfolgte ihn der Sehnige, genötigt, mit gemächlichem Griff seiner Kutte den Fortgang zu verwehren. Erschrocken hob Gideon seinen Giebel empor, drehte ihn hölzern zur Linken und keuchte »Jamal«, mit trockener Kehle. 

Jamal löste das Tuch, das lose um seinen Kopf gewunden war, und verschloss es hinter seinen Ohren. »Drei bis vier Tage noch und es wird sicher vorüber sein… Was denkst du?« Gideon sah ihn unbeteiligt an: »Ich glaube nicht, dass es so einfach mit dem Aufhören anfangen wird… werden wir dieser Wüste entwachsen, wartet sicher schon das nächste Ödland…« Auf Jamals Zügen zeichnete sich ein Lächeln ab, er fuhr mit den Händen längs seines dünnen Backenbarts: »Würde ich dich nicht kennen, mein kleiner pathetischer Freund, könnte ich vielleicht tatsächlich denken du wärst jener schwermütige und unantastbare Underdog, der sich in den letzten Tagen des Öfteren bei dir einzuschleichen gedenkt. Aber glücklicherweise kenne ich dich, zumindest andeutungsweise und sicherlich gut genug um wissen zu können, dass du viel zu begehrlich bist, um lang in solch tristem Gedankengut zu verweilen. Bald schon wird es dich langweilen und schamerfüllt wirst du denken, dass es wirklich sinnvoller ist, den ganzen Tran von dir zu werfen, der auch nicht mehr zu bieten hat als Al-Sarâb dem Durstigen. Deinem brünstigen Willen lässt du wieder mehr oder minder freien Lauf und wirst erneut nach Leibern, Gunst und deinem dich Verschenken lechzen… Wie viele Stunden soll ich ihm gewähren?« 

Ausdruckslos exhibierte Gideon der Sonne sein Angesicht, als wollte er sie um Rat fragen, wie lange es für seine Genesung bräuchte. »Ich glaube drei oder vier werden schicken!« Jamal deutete eine leichte Verbeugung an: »As-Salâmu ´alaikum«. Gideon kniff schwerfällig die Augen zusammen und nickte flüchtig: »A presto, Lehit ra'ot usw.« Jamal trottete wieder in die Mitte des Kamelzugs und ließ seinen Freund den peripherischen Seilstürmen überantwortet, die dieser derzeit sein Eigen nannte. 

Gideon. In der Zeit vor seinem Aufbruch, in den ungewissen Wiegen seines Werdens - wo ihn Kräfte, bestimmte, alte Kräfte fest vernarbt in ihren Händen hielten, seine Schwere, Güter, Widerstände austarierten, die, gewiss, gänzlich auszuloten ihm bis hier her, also bis heute, selbst in diesen Wüsten immer noch verwehrt blieben - waren ihm die Neigungswinkel seines Existierens schlicht unbegreiflich. Sie erschienen ihm wie Blöcke, weder Winkel noch Fluide. Starre Anordnungen, in denen sein Begehren sich wie in einem Zwinger fand: angerufen von tausend, sich widersprechenden Imperativen. Aber natürlich. Was hatte er auch schon getan oder sein zu lassen erlernt? Unentwegt klöppelte er an den Marken seines ›Selbstseins‹, der Profile, des Verhaltens, der Attitüden und Gesinnungen. Aber wohin, kam ihm einstmals und immer wieder die mehr oder minder lustvolle Frage, die am Bestehen des zu Erfragenden nicht minder bestand hatte, wohin hatten ihn all seine Anstrengungen gebracht? In die Wüste. Ja, in die Wüsten. Und hier wehten andere Sandwellen…

Nur wie kam es dazu, dass dieser Kerl, dieser Typus, einmal, irgendwann, inmitten eine Karawane exaltierter Salonwüstengringos geraten sollte? Zu abenddämmriger Zeit saß er einst in einem kleinen mitteleuropäischen Wohnraum, saß auf dem Boden und sinnierte so unergiebig wie unnachgiebig vor sich hin. Er hatte das Haus seiner Eltern wieder bezogen, die Stadt seiner Jugend, so aufregend wie ein singhalesisches Cricketspiel oder die Dartmeisterschaften von Süd-Illinois. Die Beine übereinandergeschlagen von sich gestreckt, schaute er mit einem kleinen Pfeifchen zwischen den Lippen aus dem Fenster und fühlte sich einem ungehaltenen Sprachfieber ergeben: »…ist man dann endlich auf diese unglaublich verwegene Tour gen Jeruschalajim aufgebrochen und sieht, wie alle dir fahlfröhlich zuwinken, auf ihren Plätzen und Hockern, Stühlen, Schemeln und Stockerln sitzen, dich auf ihren fein geplüschten Polster- und Ohrensesseln, auf ihren Kanadiern und Fauteuils unumwunden einladen und du auch niemanden, ja gar niemanden siehst, der nicht so eine anheimelnde Sitzgelegenheit abgestaubt hat, dann, dann bemerkst du, dass du es bist, der immer noch läuft, dass genau du derjenige bist, der immer noch, mit diesem freundlich zugetanen, optimistisch dreinschauenden Lächeln am Laufen ist...«. 

Er begab sich in Bewegung. Lief zum Fenster, wieder zurück, wieder zum Fenster, kauerte erneut auf dem Boden, rieb sich die Stirn, stand wieder auf, öffnete das Fenster, lief zur Tür, zog an seinem Pfeifchen, schrubbte die Schultern, lief wieder zum Fenster, guckte hinaus und hielt an. Eine Palmweide hatte sich in sein Gesichtsfeld gerückt. Aufdringlich. Er bemerkte eine knappe, hurtige Blauphase zwischen seinen Gedanken; ein kleines Rauschen kletterte in ihm empor, eine wollige Entrückung, die geschmeidig durch sein Fell huschte. Da wollte er Wind auf seinen Häuten tasten… aber erinnerte sich bloß wieder an Riephans und seine letzten aufreibenden, anregenden, beschämenden Jahre…

Claudius Riephans, sein Doktorvater, in dem er eigentlich, hätten die Umständskräfte nicht ein derart intrigantes Spiel mit ihnen getrieben, einen äußerst guten Freund gewonnen hätte. Nicht nur dass er Gideons ausgefallene Forschungsschwerpunkte unterstützte (vgl. S. 91), nein, er verehrte ihn, ihn und seine synoptischen Studien, die jeden euro-amerikanischen Psycho-Trend der letzten 80 Jahre unterwandern wollten. Riephans. Was hatten sie nicht alles geteilt. Nächte, Gelder, Bücher - und natürlich unzählige Drinks. Aber dennoch trat eines Tages dies Eine auf, dies klassisch, langweilige eine, dass ihre Beziehung zersetzte, dass den entzündlichen Dorn in das frische Fleisch ihrer Freundschaft bohrte. Riephans´ Partner, in diesem Fall: seine Gattin, sein Weib und Intimus, den sie auch, wie alle anderen Güter dieser Welt, freimütig teilen, verschenken, gebrauchen und verehren wollten. 

Doch, ach, trotz all ihrer therapeutischen, sexologischen, queeren, beziehungs- und bindungstheoretischen Diskurse und Ansichten, ließen sie diese zärtliche Möglichkeit, ihre Freundschaft noch weiter zu vertiefen, zu dem altbewährten Mittel der Zwietracht reifen. Gideon saugte an seinem Pfeifchen wie einer schmerzlindernden Zitze und ließ sich in Erinnerungen treiben. »Die Schmach begann sich langsam und sehr anständig anzubahnen. Claudius hatte zu einem Umtrunk in seine Stube geladen, da unser Forschungsbereich kürzlich ein ausgiebiges Projekt bewilligt bekommen hatte. Ich erwartete mir ein ausschweifendes Fest und machte mich bereits eine gute Stunde vor dem offiziellen Beginn auf den Weg, da wir gedachten noch etwas über meine Doktorarbeit zu schwadronieren. Eine halbe Flasche Wein hatte ich bereits intus und fühlte mich ohnedies recht beschwingt.  [Auszug Ende]

 

(Eine kürzere Version dieses Kapitels ist auch als Video zu hören/sehen)