Auszüge aus Kapitel 5


Seit hundert Jahren glaubt man, der (literarische) Wahn bestünde in der Formel »Ich ist ein anderer«, der Wahn sei eine Depersonalisierungserfahrung. Für mich als liebendes Subjekt ist er das genaue Gegenteil: es ist das Subjektwerden, das Sich-nicht-enthalten-Können, Subjekt zu sein, was mich verrückt macht. Ich bin kein anderer: eben das nehme ich mit Entsetzten war.

(Roland Barthes - Fragmente einer Sprache der Liebe)


Ein Wagen hielt. Es hielt wahrhaftig ein Wagen. Ein Automobil. Eine waschechte Karosserie, kurz: ein schwarzer 93'er Polo, nicht hübsch aber mobil. Ein Hauch englischer Erregung ergriff mich: dass tatsächlich etwas, und wenn bloß solch ein Ungetüm, an meiner misslichen Lage Anteil nahm; dass mein ungebärdiges Heischen und Flehen, dieser halsstarrige Aufbruch nun schon einen Widerklang erfahren sollte…

Mit unerfindlichen Kraftaufwallungen stürmte ich dem kargen Gefährt entgegen, stolperte auf das Seitenschiff und riss den Türgriff, mit einer gewissen Bange dessen fragile Einfassung gänzlich zu lösen, zu mir heran. Dann: noch bloßeres Erstaunen. Mit welchem Schalk hatte mich Fatum bedacht? Es konnte doch nicht glauben, dass ich nach immerhin schon bald halbtägiger Dürre, mit monate-, ach, jahrelangem Vorlauf, diesem ersten Sinnesreiz einfach dankbar lächelnd erliegen würde, - ohne mich zu rüsten, ohne mit dem garstigen Spiel seiner Ankündigungen immer schon gerechnet zu haben.

Ich blickte in das Antlitz einer opaken.... Frau, einer geradezu fürstlich anmutigen Frau. Ihr ockerner Teint und das schwarze Wellenhaar verliehen ihr in der uns zeitig beiwohnenden Abendsonne den Glanz einer memphitischen Hetäre. Meine atemlose Einbildungskraft wurde von ihrer ganzen Physiognomie besetzt; die teuersten Kostbarkeiten dünkte ich unter ihrem seidenem Hemd zu erahnen. Und diese drallen, beleckten, feingerillten Lippen, die nur dafür da zu sein schienen, sich eilend in das flaumige Fleisch ihrer Backenmuskeln zu bohren. Die Situation beängstigte mich unmittelbar.

»Salut… Wo willst du denn hin?« Eine helle, farbenreiche Stimme weste mich an, während sich ihr teilhaftiger Giebel flüchtig senkte, wieder anhob und mir ein, zwei Sekunden auf die Miene stierte, bevor er sich tollkühn und in umsichtiger Federung erneut dem Straßengrund entgegenwarf. Die Augen, die mich da blitzschnell angeglüht hatten, wirkten tanzend und selbstbeständig, als wären sie nur darauf aus einen wie mich, den quadratisch Dreinschauenden, anzulocken, aufzufressen und, als wollten sie ihre bissige Schläue noch steigern, mir auf ungestüme Weise derart daherkamen, dass ich mich genötigt sah, Stellung zu beziehen, Haltung zu wahren, was mich natürlich wie einen vollkommenen Trottel im Boden ankern lies, der mit aufgerissenem Maul dastand und aussah als hätte er nach Tagen schweißtreibender Arbeit in irgendeinem ausgejauchten Kreuzworträtselkerker zum ersten Mal wieder ein kommunikationsforderndes Objekt vor Augen.

»Ich... ich will weg von hier! In welche Direktion ist mir eigentlich ziemlich gleich...«. Kurz hielt ich inne und fragte mich, was ich zum Ausdruck bringen wollte, aber da hörte ich mich bereits weitere Worte sagen: »Also fahr doch einfach in die Richtung, die du ohnehin anvisierst, und setz mich an der nächstgrößeren Stadt oder Straße oder Raststätte ab.« Ich wunderte mich über die schlichte, beinahe präzise und ja, etwas imperative Artikulation des eben Gesagten, denn dem Gefühl nach ließen mich ihre sirenischen Augen in einer Art paralytischer Abasie verharren. »Gut, dann steig ein, ich fahr nach Neukirchen«. 

Hatte ich mich also entschieden, ihn mitzunehmen. Ihn, der mir nach dem ersten Eindruck wie eine kuriose Mischung aus Freizeitbohemien und Stilfetischisten daherkam. Sein luftiger, dreiteiliger und zweireihiger Schurwollnadelstreifen klebte in sonderbaren Wellen an seinem Körper und das mittelhalslange, straßenköterblonde Haar hatte er mit einem melonenförmigen Hut drapiert. Eigentlich wollte ich nichts wie nach Hause, aber als ich dieses obskure Objekt am Straßenrand lungern sah, fühlte ich mich unweigerlich bewegt anzuhalten; obwohl ich mich schließlich fragte, ob dieser Entschluss nicht einer genaueren Überlegung bedurft hätte. 

[…Seitenlange Textauslassung….]

Sie warf mir einen nüchternen Blick zu, den ich als Aufforderung interpretierte sie nachhaltiger anzukitzeln. »Ich weiß nicht, wie ich das jetzt verstehen soll? Erst hältst du mir Vorträge über die Unsinnigkeit meines waghalsigen Aufbruchs und dann explizierst du hier einen ebenso problematischen Moment deiner gegenwärtigen Lage…  ich meine, wo ist der Unterschied? Du lebst mit deinen Problemen eben zuhause und ich will mit ihnen auf Wanderschaft gehen… das könnte man doch auch ›positiv‹ sehen, Bashô, Werden im Wandern sein usw...«

»Aber das ist genau der Punkt, an den man unterscheiden muss! Es geht hier wirklich nicht um den Unterschied von Bewegung und Stagnation, sondern darum, ob sich irgendetwas ändert, wenn man sich einfach aufmacht. Die… Versammlung, die ich gerade bin, meine… Sphäre, ist natürlich verflochten mit all ihren ›hier‹ seienden Problemen, aber diese Probleme haben doch Spuren, eine Geschichte, die selbst aus unzähligen Umbrüchen besteht und sich natürlich in den unterschiedlichsten Aufbrüchen wiederholt… 

»Natürlich.«  

»Wie meinen?«

»Nichts. Nur natürlich.«

»Irgendwie scheinst du mich nicht recht verstanden zu haben…«

»Ich glaub schon…«

»Aber…?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht lässt sich daran doch eher der Unterschied zwischen unseren Motivationen erkennen.«

»Was… was meinst du?«

»Also ich hatte zumindest das Gefühl, dass sich meine letztjährigen konkreten, ja, ganz konkreten Probleme mit meiner lokalen Lage in einer ›Sphäre‹ zusammen nieder bzw. groß gemacht haben. Aber dir ergeht es vermutlich einfach anders. Wahrscheinlich bist du hier in irgendwelche gewichtigen, umwälzenden Arbeiten vertieft, denen gegenüber gewöhnliche sozioprivate Abfucks einfach nur grauenerregend trivial erscheinen…«

»Hey, was soll das denn jetzt? Nur weil ich mein Auto gerade nicht mit Wasserkanistern und Trockenfutter für die nächsten zwei Jahre präpariert habe, um immer auf den gewaltigen Roadtrip gefasst zu sein, heißt das doch nicht, dass ich deine Spontaneität in Abrede stelle…«

»Hat sich aber vorhin zumindest ein wenig so angehört…«

»Ach so, und deswegen verweile ich jetzt lieber in den vermeintlich musischen Gefilden regionaler Umstände, von denen aus ich die naiven Aussteigerphantasien eines Typen, wie du einer bist, mit verständnisvoller Miene tadeln kann… was ist das denn für eine Scheiße?« 

Mit gelinder Entrüstung funkelte ich ihn an. Er allerdings regte sich nicht, fast nicht, sondern schien, soweit wenigstens sein nervöses Brauenspiel, mit etwas Umtriebigen beschäftigt zu sein, als ob sein Körper irgendeine klotzige Wahnwitzigkeit ausbrüten würde. »Aber, werte Unbekannte, wieso scheißen Sie dann nicht auf das Warten und schließen sich meiner Wenigkeit… nur für eine kurze, experimentelle Weile natürlich, einfach an? Denn eigentlich... wie du sagtest, was hast du schon zu verlieren? Deine ›Verstrickungen‹ ja sicherlich nicht... also im höchsten Fall immer nur dein Leben, und das ist vielleicht sogar eines, welches es gerne hätte, verloren zu werden. Hey, ich hoffe, dass ich jetzt nicht irgendwie zu strack oder anmachend wirke… ich mein das wirklich bloß als kleines, verwegenes Experiment... und wenn wir uns nach einigen Stunden oder Tagen einfach nur auf die Eier gehen… was soll´s! Du hast eine Wohnung... und all die Verstrickungen, zu denen du jederzeit wieder zurückkehren kannst... und ich gehe mit meinen wieder allein auf die walz…« 

Ja, das war strack! Schon als er seine Lippen endlich in Bewegung versetzte, ahnte ich die Ungeheuerlichkeit, die er im Begriff war, an mich zu richten. Und nun, nach dem sich diese Ahnung tatsächlich realisiert hatte, fand ich mich vakuumieren - wenn auch glitzernd. 

Ich hatte das Gefühl einem statischen Funkenschauer, einem Ebben von Andeutungen beizuwohnen. Ich musste sie wohl tatsächlich überbordet haben, was eigentlich ein gutes Zeichen war, denn immerhin schien sie an dieser Abwegigkeit Anteil zu nehmen. Allerdings war es selbstverständlich auch möglich, dass ich ihre Art von Zynismus nicht verstand oder sie einfach Angst bekommen hatte und hastig überlegte, wie sie mich am besten aus ihrem Auto befördern konnte. Meinen Blick starr an sie geheftet überlegte ich angespannt fort: Sollte ich etwas sagen? Meine Frage nivellieren? Nochmals bekräftigen? 

»Ja! Ja, ich mach es... eigentlich weiß ich gerade sowieso nicht, was mich mehr reizen würde als ein Ritt ins bisher Namenlose. Ja! Aber… ich fahre uns erst mal zu mir, okay? Also, Auto abstellen, Sachen packen, Denkübungen, Planspiele und so weiter...« Sie sagte es mit einer Leichtigkeit, als hätte sie sich bloß entschlossen, den Nachbarskindern Ketamin in den Pudding zu rühren. Mit einem Schuss sakraler Ungläubigkeit sah ich sie an. Diese ›Frau‹, die nun die Absicht hegte, die scheinbar sogar ›freiwillige‹ Absicht, mich, den Gid, begleiten zu wollen... Konnte es sein, konnte es wirklich sein, dass ich nun schon, gerade einmal sechs Stunden nach meinem holprigen Aufbruch, einer jener Entitäten begegnet war, mit denen ich Sinne und Absicht, für einen ungewissen Zeitraum, eine aufopfernde Dauer, verflechten konnte? »Ich bin… sprachlos. Das ist... phantastisch! Wie heißt du doch gleich?«

»Sualayka« 

»Ja, ganz genau, Sualayka, - beinahe schon beängstigend… ich bin Gideon, Gid.« [Auszug Ende]

 

(Eine kürzere Version diese Kapitels ist auch als Video zu hören/sehen)